Allmacht und Beeinflussung
Franz Rieder • Gottes Krieger • Gott ist tot • Es lebe Gott (Last Update: 22.03.2017)
Die Beziehung zwischen Gottes Souveränität und dem freien Willen der Glaubensgemeinschaft haben wir mit dem Begriff der Partizipation, Teilhabe, bestimmt. Partizipation funktioniert in der Religion ähnlich wie Katharsis bei Aristoteles1, von dem wahrscheinlich auch die Vorstellung der religiösen Teilhabe abgeleitet und ins Christentum und den Islam übernommen worden ist2.
Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, dass der Zusammenhang von Gottes Souveränität und freiem Willen der Glaubensgemeinschaft ein sinnstiftender Erlösungszusammenhang ist. Die Bibel beschreibt die Gläubigen wiederholt als die „Auserwählten“3. Die Tatsache, dass Gläubige vorher bestimmt4 und auserwählt5 für die Rettung sind, wird allein aus diesen Stellen sehr deutlich.
In unserem Zusammenhang, der das Thema Macht nun als Allmacht aus religiösem Diskurs – insofern ist der Bezug zur Sprache im Lacanschen Sinne noch gewährleistet – heraus bedenkt, muss der Begriff der Partizipation noch in das Dasein des Gläubigen integriert werden.
Die Souveränität Gottes bezeichnet seine Omnipotenz, also
das zu tun, was seinem heiligen Willen entspricht, seine
unbeschränkte Macht zu tun, was er beschlossen hat und seinen
absolut unabhängigen Willen.6
Im
Westminster Glaubensbekenntnis heißt es: Gott hat von aller
Ewigkeit her nach dem höchst weisen und heiligen Ratschluss
seines eigenen Willens frei und unabänderlich alles angeordnet,
was auch immer sich ereignet.7
Gott zwingt niemanden, ihn zu lieben oder sein Geschenk der ewigen
Erlösung durch Jesus Christus anzunehmen. Das ist ein Akt des
freien Willens des Menschen.8
Wenn ein Mensch sich dazu entschließt, im Glauben, Jesus in
sein Leben einzuladen, dann wird er zu einem neuen Geschöpf.
Wir befinden uns sozusagen am Übergang der göttlichen Allmacht in das Dasein des Gläubigen. Das Bindeglied bildet der freie Wille des Gläubigen, mit dem er an der Souveränität Gottes partizipiert. Betrachten wir dieses Verhältnis formal als kategorial-linguistische Figur, dann hat dieser freie Wille des Gläubigen seinen Grund in etwas anderem, im Begriff Gott, wobei dieser fungiert als die Ousia im Sinne des Hypokeimenon, als das primäre Seiende, als erste Substanz, von der her etwas, das selbst nicht in einem Zugrundeliegenden, Hypokeimenon, selbst liegt, aber von diesem her ausgesagt wird, gleichsam als ein Gattungsbegriff bzw. als ein Allgemeinbegriff, der der Ousia bestimmt ist.
Der freie Wille des Gläubigen ist also eine Form der Freiheit, aber als dieses Seiende bestimmt aus einem anderen, einem ihm Zugrundeliegenden, so dass man sagen kann, es ist eine Freiheit in Alterität. Die Wirklichkeit dieser Freiheit besteht als Phantasma des souveränen Handelns im Rahmen einer universellen Beeinflussung der Gläubigen wie auch der Ungläubigen in göttlicher Mission. Wesentlich dabei ist, dass diese Möglichkeit der Beeinflussung aus der eigenen Souveränität heraus erlebt wird, und das wird sie.
Die ersten Formen der Beeinflussung als Verkündungsinitiativen durch die Jünger Gottes bzw. international betrachtet, durch die Evangelisten erschienen durchaus nicht als unfreie Zwangsmissionen. Missionierungen waren und sind in diesem Sinne freie Handlungen in Alterität und so Partizipationen an der Allmacht und Souveränität Gottes durch freies Missionariat.
Als universelle Beeinflussungsmission fungierten alle möglichen Formen der religiösen Allmachtsphantasmatik vom Kreuzrittertum bis hin zur heutigen Form der universellen Missionierung durch den Islamismus und Dschihad, wobei hier wie dort beides, Verteidigung und Ausbreitung der christlichen wie der islamischen Religion zu ihrem Kerngeschäft gehören.
Die Wirklichkeit von Freiheit in Alterität bestimmen wir also als Beeinflussung. Dies gilt nicht nur für das religiöse Verhalten der Missionierung, sondern bildet, wie wir später sehen werden, in abgewandelter Form auch die Grundlage für ein weites und nicht unwichtiges Feld des politischen wie ökonomischen Verhaltens, besonders im sog. Lobbyismus u.a. Im Moment aber wollen wir dem „großen Anderen“ auf der Spur bleiben, als phantasmatische Vorstellung oder Allmachtsphantasie und deren praktischer Wirklichkeit als Beeinflussungs- bzw. Missionierungsverhalten.
Die Mission, Gottes Reich und Gottes Wort in die Welt zu tragen, begleitet die phantasmatische Vorstellung, aus freien Stücken realer ‚Gesandter‘, realer Agent des göttlichen Willens zu sein. Dazu gehört vor allem der „freie“ Verzicht, wie das im Zölibat oder anderen Form des Verzichts auf weltliche Begehrlichkeiten zum Ausdruck kommt. Der freie Verzicht auf alle Begehrlichkeiten außerhalb des religiös Erlaubten unterstellt das Begehren des Gläubigen unter das Begehren des „großen Anderen“ also unter den Signifikanten bzw. die Schriftauslegung von Bibel oder Koran. Ihr Substitut ist absolute Erlösung. Und diese ist der Sinn des religiösen Daseins.
Insofern Gott als Sinnstifter der Mission fungiert, selbst aber nicht Teil des Beeinflussungsdiskurses ist, ist seine Souveränität absolut unantastbar. Gott kann nichts tun, was seinem eigenen Charakter widerspräche. Gottes Allmacht ist ‚unbeschränkt‘, da Gott unwandelbar ist, also absolut mit sich selbst identisch ist, und deshalb muss sein Wille seine Unwandelbarkeit, müssen seine Worte seine Unangreifbarkeit widerspiegeln.9
Insofern keine Rechtfertigung Gottes in der Religion selbst notwendig ist, sind göttliche Allmacht und Souveränität nicht nur fraglos gegeben, sondern auch in ihrer phantasmatischen Vorstellung gerechtfertigt und unangreifbar. Und die höchste Form der Partizipation an der Allmacht erlebt der Gläubige im Glaubenskrieg, in der bedingungslosen Form einer universellen Mission der Beeinflussung der Ungläubigen. Die Zerstörung deren Kultur ist in dieser Immanenz der Partizipation notwendige Folge, kein barbarischer Ausritt.
Innerhalb phantasmatischer Allmachtsphantasien bilden religiöse Schrift und Wort unmittelbar das Reale, insofern sie die Vorstellungswelt als ganze signifizieren. So sprachlich durchorganisiert und strukturiert und jeder Frage der Legitimität entzogen, fungiert die Partizipation an der Allmacht zugleich auch als Verweis auf die unangreifbare Legitimität realer Handlungen, wie grausam sie auch seien, ganz gleich, von wem auch ausgeführt, sei es die Inquisition oder die „Kämpfer des Islamischen Staates“, der nichts anderes ist als ein religiös legitimierter Terrorhaufen. Ein Staat kann daraus nicht werden und ein Gottesstaat erst, nachdem die Welt seinem Allmachtsanspruch erlegen ist; zum Glück kaum real vorstellbar.
In diesem Sinne verweisen die religiösen Signifikanten, also die sprachlichen wie liturgischen, religionswissenschaftlichen wie individuellen Auslegungen der religiösen Schriften allesamt auf reale Begebenheiten, kommen natürlich nie ganz in Deckung mit deren Wirklichkeit. Der „große Mangel“ besteht schlicht darin, dass qua Partizipation die phantasmatisch vorgestellte Beeinflussung nie mit der Allmacht selbst identisch werden, wie auch die Mission der Beeinflussung nie zuende kommen kann. Selbst wenn die Weltreligion Realität würde, bliebe ein „Rest“ Differenz zur göttlichen Universalität, die ja bekanntlich das ganze Universum umfasst.
Gottes Krieger
Keine Angst, wir werden nicht auf die aktuelle (2017) Situation im Nahen Osten eingehen. Das machen die Journalisten. Uns interessiert immer noch der Zusammenhang von Allmacht und Beeinflussung und wie er aus religiösen Motiven gespeist wird. Und dabei steht für uns einmal die Frage im Zentrum, wie der Transfer von metaphysischen Eigenschaften in empirisches Verhalten gelingen kann, also die Frage der Anamnese, und zum anderen was den Geltungsbereich dieser Eigenschaften ausmacht?
Was
wir im Zusammenhang mit Religion unter dem Terminus phantasmatische
Vorstellungswelt angesprochen haben, ist in einem durchaus eng
gemeinten Sinne eine Binnensicht auf die religiösen
Universalien. In dieser Binnensicht erhellen sich die
Übertragungsvorgänge der Auslegung, also die Anamnese der
„Eigenschaften Gottes“ in die Vorstellungswelt des
Gläubigen.
Wenn wir von Eigenschaften Gottes sprechen, dann
sind diese nicht zu verwechseln mit Eigenschaften von Menschen oder
natürlichen Eigenschaften. Die Eigenschaften Gottes haben wir
schon bestimmt als Universalien, also etwas, was in einem
Zugrundeliegenden, also einer alles Seiende bestimmenden Ousia
oder Substanz gedacht wird. Gedacht und gesprochen, denn ohne die
liturgischen wie die hermeneutischen Behandlungen kann der religiöse
Text keine Botschaft sein, keine Aussagekraft einer Wahrheit
erreichen.
Wahrheit (Aletheia) in diesem
Sinne meint zunächst einmal αληθευειν,
also die Wahrheit sagen und so die göttliche Botschaft gegen das
Verfallen an das λεγόμενον,
das bloß einmal Gesagte, durch Kundige also überhaupt in
den Stand der Wahrheit zu bringen. Einer Wahrheit, die wie eine
„natürliche“ Wahrheit ihren Kern im Konsensus
findet, also in dem von allen Zugehörigen Gesagten.
Die
antiken griechischen Akademien kannten diese Form der Lehre wie auch
die Koranschulen, Klöster und andere religiöse
Lehranstalten. Sie leisten die fundamentale Übersetzung der
Schriften bzw. der Heiligen Schrift durch das Wort und so die
Anamnese durch den Gläubigen.
Diese anamnestische Lehrtätigkeit oder Didaktik muss notwendigerweise nun die Eigenschaften Gottes übersetzbar machen in alltagstaugliche Handlungsanweisungen für die Gläubigen, ohne dabei direkt auf religiöse Gebote zu verweisen. Die Gebote sind zwar auch Handlungsanweisungen, aber keine direkten Ableitungen aus den Eigenschaften Gottes, also für Handlungen, motiviert aus Beeinflussungsmotivation kaum zu gebrauchen.
Zu den bereits vorgestellten, substanziellen Eigenschaften Gottes kommt die Wahrhaftigkeit. Gott kann nicht lügen.10 In allem bleibt Gott nicht nur wahrhaftig, er hält auch jeden Eid und jedes seiner Versprechen. Und Gott kann nicht vom Bösen versucht werden. In seinem Wesen gibt es nichts, das vom Bösen angegriffen werden könnte.11 In der Welt der Gläubigen gibt es also die Unwahrhaftigkeit bzw Lüge, gibt es die Untreue, den Bruch des Versprechens sowie das Böse.
Wenn alles dies die Welt der Ungläubigen beherrscht, dann ist die Welt der Gläubigen zwar nicht ohne diese nicht-substanziellen Eigenschaften, also Eigenschaften, die die individuelle Existenz des Menschen auszeichnen. Aber in der phantasmatischen Gottesvorstellung partizipiert der Mensch an bzw. von den göttlichen Eigenschaften, wird er seiner zufälligen Existenz, seines sinnlosen oder an „falschen“ Versprechungen orientierten Daseins enthoben und kann in dem, was er im Glauben als Gläubiger tut, auch nicht ganz von Unwahrhaftigkeit, Untreue, Lüge und dem Bösen getrieben sein. Im Gegenteil.
Sein Dasein als Gläubiger erhält also eine Auszeichnung, ein neues Sein, das ihn als Mitglied einer (Religions-) Gemeinschaft definiert, als wahrhaftigeres, glaubenstreueres, aufrichtigeres Mitglied, gleichsam in direkter göttlicher Mission gegenüber allen anderen Mitgliedern innerhalb dieser Gemeinschaft, aber ganz besonders gegenüber allen Ungläubigen, die außerhalb dieser Gemeinschaft stehen.
Gott kann sich selber nicht verleugnen oder widersprechen. Gott bleibt seinen Verheißungen treu.12 Ein Versprechen ist nur so gut wie die Person, die es gegeben hat und so verbindlich und aufrichtig, wie die Person, die es empfängt. Wie Gott selbst, so ist sein Wort unveränderlich13, Gott ruft nicht zurück, was er gegeben hat; er verwirft nicht, was er gewählt hat.14
Allein hieraus wird schon deutlich, dass eine Aufgabe der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft, die ja auch einem Sakrament entspricht, wie etwa der Taufe, nicht vorgesehen ist. Gott verlässt man nicht, zumal Gott auch keinen Anlass dazu zu geben in der Lage wäre. Ein Verlassen der Gemeinschaft ist Verleugnung Gottes und kommt einem Todesurteil, einem Rücksetzen in die Ungläubigkeit gleich, das unmittelbar zu vollstrecken ist. Denn die Ehre des einzelnen Mitglieds der Gemeinschaft wie die der Gemeinschaft als ganze steht in direkter Filiation mit der Ehre Gottes. Glaubenstreue ist daher oberstes Gebot, abgeleitet aus der Integrität Gottes. Sie gilt deshalb natürlich für den einzelnen wie auch für die Gemeinschaft untereinander und als ganze.
Gott kann auch Sünden nicht vergeben, ohne dass sie gesühnt werden. Und so ist die Sühne auch direkte Mission für den Glaubensfanatiker. Da Gott gerecht ist, kann er nicht einfach alles ungeschehen machen.15 Im Garten Gethsemane rief Jesus: „Mein Vater! Wenn es möglich ist, lass den Kelch des Leides an mir vorübergehen…“16 Dennoch musste Christus physische und seelische Leiden erdulden. Gottes Gerechtigkeit der Sünde gegenüber muss vollkommen sein, ohne Ausnahme. Daraus leitet sich direkt der Status des Gläubigen als „Krieger Gottes“ her, als „Bürger des Gottesstaates“, dessen vorzüglichste Aufgabe ist, diesen Staat mit seinem Leben zu verteidigen wie über alle „weltlichen“ Staatsformen mit dem „Schwert“ auszubreiten.
Bis hierher sollte es einigermaßen einsichtig geworden sein, dass man das Verhalten glaubensmissionierter Menschen nicht aus den religiösen Geboten verstehen kann. Nur aus den „Eigenschaften Gottes“ ist ein weitreichendes, umfassendes Verständnis möglich, das auch die Grausamkeiten der Allmachtsvorstellungen der „Missionare“ einschließt. Dass Gottes Krieger nicht identisch sind mit der Glaubensgemeinschaft versteht sich von selbst, dass die Glaubensgemeinschaft in ihrem Wesenskern Auslegung und Lehre ist, die unterschiedlich ausfallen können. Wir haben nur bestritten, dass es sich bei den extremen Auslegungen und Lehren um Extreme, um Einzelfälle handelt. Sie gehören zum Auslegungskanon dazu.
Gott ist tot
„Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken: Wohin ist Gott? Rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“
So beginnt Friedrich Nietzsches
berühmter Text aus der „Fröhlichen Wissenschaft“.
Protagonist ist der „tolle Mensch“, für
Nietzsche-Kenner auch benannt als der Wahnsinnige und Seher, der
Mensch, der vom Volk nicht verstanden wird. Denn er verkündet
Unerhörtes:
„Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir
haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder
aller Mörder?“
Schlichte Gemüter meinen, Nietzsche hätte Gott getötet in seinen Schriften; dem ist nicht so. Im Gegenteil. Der „Antichrist“ war weder Atheist noch gläubiger Christ. Zeitlebens setzte er sich in allen seinen Schriften mit religiösen Themen auseinander – vor allem mit der Götterwelt der alten Griechen, mit dem Katholizismus und Protestantismus, aber auch mit dem Islam, dem Buddhismus, dem Hinduismus und anderen asiatischen Religionen.
In seinem Schriften begegnet einem ein
Philosoph, der die hellenische Welt, besonders das Gottesverständnis
der alten Griechen bewunderte. In „Die Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik“ dringt Nietzsche tief darin ein und
differenziert mit großer Bewunderung der dionysischen,
Sinnlichkeit, Genuss und ausschweifendes Lebensgefühl bejahenden
Götterwelt diese von der apollinischen, Pflicht, Askese und
Geistigkeit folgenden, die er später mit der décadence
des christlichen Glaubens und dem Nihilismus seiner Zeit gleichsetzen
wird.
Aus dieser Zeit, den frühen 1870er Jahren, datiert auch
der zu Lebzeiten unveröffentlichte Essay: „Die Geburt des
tragischen Gedankens“ in dem er schrieb:
„Nicht um
sich vom Leben abzuwenden, schaute das Auge des Hellenen gläubig
zu ihnen empor. Aus ihnen spricht eine Religion des Lebens, nicht der
Pflicht oder der Askese oder der Geistigkeit. Alle diese Gestalten
atmen den Triumph des Daseins, ein üppiges Lebensgefühl
begleitet ihren Kultus.“
Nietzsche war ein Bewunderer der hellenischen Kultus-Kunst. In seiner berühmten Abhandlung über „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ führt Nietzsche den Paradigmenwechsel von der dionysischen zur apollinischenden Lebenseinstellung auf drei wesentliche Entwicklungen zurück: Das Primat von technisch-wissenschaftlicher Rationalität, das Bewusstsein des schlechten Gewissens und dessen ontologischer Struktur von Schuld und Sühne sowie der Entmystifizierung der Welt zu einer hierarchischen Ordnung von Werten, in der, wie die Scholastiker einst formulierten, Gott der höchste Wert ist. Und Nietzsche kehrt in seiner unnachahmlichen Art sogleich einmal die Werte um, indem er sagt: Gott wurde zum höchsten Wert herabgewürdigt.
Im Gegensatz zum dionysischen Kultus,
ist das Christentum eine sinnenleere, lebensfeindliche, also
nihilistische Religion. Und nach Jahren seiner Auseinandersetzung mit
der Geschichte bzw. Genealogie des Glaubens schrieb Nietzsche 1888 im
‚Antichrist‘:
„Das ist es nicht, was uns
abscheidet, dass wir keinen Gott wieder finden, weder in der
Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der Natur, – sondern
dass wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als ‚göttlich‘,
sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich
empfinden, nicht als Irrtum, sondern als Verbrechen am Leben. Wir
leugnen Gott als Gott.“
Nicht nur Hölderlin sah in
allem „Heiligen“ die Begegnungstätte der Sterblichen
mit den Göttern bzw. Gott. Aber nun ist das „Heiligste
und Mächtigste, was die Welt bisher besaß,(..) unter
unsern Messern verblutet.“17
So sind im Anschluss an Nietzsche die
meisten Philosophen diesem Paradigmenwechsel gefolgt und lasen diesen
zuvörderst als eine Art zivilisations- bzw.
rationalitätskritischer Diagnostik. In Anlehnung an Nietzsches
Ausspruch: Vor diesem höchsten Wert sei es ihm unmöglich zu
tanzen,“ schrieb Heidegger später in seinem
Vorlesungszyklus über Nietzsche:
„Vor diesem Gott
kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der causa
sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor
diesem Gott musizieren und tanzen.“
Aber ist „das Heiligste und Mächtigste, was die Welt besaß“ wirklich und endgültig verschwunden? Kommen die Menschen des aufgeklärten Industriezeitalters wirklich ganz ohne das „Opium des Volkes“18, ohne Religion und ohne Gott aus? Marx sah in Gott lediglich eine Vernebelung des Denkens, eine Droge, die die blumigen Illusionen über den eigenen elenden Zustand befördert. Das religiöse Elend ist für Marx daher in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die „Protestation“ gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist (ebenda).
Auch Heidegger verlangte eine Neubesinnung auf Gott, die zuallererst mit der Preisgabe unserer Vor-Stellungen von Gott beginnen müsste. Die lange Reihe der, wie man heute sagen würde, „follower“ des Antichristen stellt auch den Zeitgenossen Heideggers, Ernst Bloch vor, der das Neue Testament auf seinen humanistischen Kern hin befragte und diesen dann politisch zu bestimmen.
„Die Wahrheit des Gottesideals
ist einzig die Utopie des Reichs, zu dieser ist gerade die
Voraussetzung, dass kein Gott in der Höhe bleibt, indem ohnehin
keiner dort ist oder jemals war.“
Und quasi als Beleg
für dieses „neue Denken“, das uns
„vielleicht näher zum göttlichen Gott“
(Heidegger) hinführen könne, zitiert Bloch Jesus
selbst: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch“19
und insistiert geradezu gegen eine Abkehr vom Christentum. Was
Nietzsche und Bloch gemeinsam ist, ist der Gedanke des Antichristen,
des Atheisten inmitten des Christentums.
Kein Gegensatz also
zwischen Christ und Antichrist am mythischen Grund der Religion, dort
wo das Heilige im Kult das Menschen und Götter Einigende feiert.
Sehen wir Nietzsche, Marx, Heidegger und Bloch zusammen, dann stehen
sie alle vor der Frage nach dem „Menschlichen-Allzumenschlichen“20
in der Religion. Und zwar einmal als die Frage nach der „Erlösung“
des Menschen aus seiner materiellen und geistigen Not und zum anderen
vor der Frage, wie und wann dieser alles bestimmende menschliche
Wunsch zu sich selber kommen kann.
Es lebe Gott
Den Menschen aus dem messianischen
Erlösungsanspruch herauslösen heisst zugleich auch das
Christentum von einer Gottesvorstellung zu befreien, die den
allmächtigen Gott nicht als einen Erlöser unter uns im Hier
und Jetzt vorstellt.
„Das Evangelium war doch gerade das
Dasein, das Erfülltsein, die Wirklichkeit dieses ‚Reichs’
gewesen.“-“ ‚Das Reich Gottes‘ ist nichts,
das man erwartet: Es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es
kommt nicht in ‚tausend Jahren‘ – es ist eine
Erfahrung an einem Herzen: Es ist überall da.“21
Was Nietzsche hier fokussiert ist die
klare Absage an jede Form der Erlösung, die nicht im Dasein der
Menschen, sondern, vertröstet auf ein besseres Leben, in einem
Jenseits stattfindet. Und damit ist gleichzeitig auch dem Glauben an
ein „zweites“ Reich, an eine übersinnliche,
metaphysische transzendente Welt eine Absage erteilt.
Wenn
das Reich Gottes mitten unter uns ist, dann besteht das
„vorbildliche Leben in der Liebe und Demut; in der
Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt,
im Glauben an die Seligkeit hier auf Erden, trotz Not, Widerstand und
Tod, in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zorns, der
Verachtung.“22
Und in noch drastischeren Worten gegen diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart sieht Nietzsche „irgendwann“ den großen Erlöser aus seiner neu-testamentarischen Versenkung wieder auftauchen. „Dieser Mensch der Zukunft, der uns erlösen wird vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der Erde ihr Ziel und dem Menschen die Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen.“23
Wie
nicht selten sehen wir auch hier Nietzsches Umdeutung am Werke, eine
Umdeutung des Erlösers, ja sogar der Religion selbst. Der
„heilige Anarchist“ entstammt einer aufgeklärten,
einer säkularen Religion. Er kommt aus einer protestantischen
Philosophie24,
einer Philosophie der Befreiung, also einer, die den
Erlösungsgedanken nicht willig ist aufzugeben oder hinter
metaphysischen Begriffen zur Unkenntlichkeit verborgen hat.
Dieser
‚heilige Anarchist‘, der das niedere Volk, die
Ausgestoßenen und ‚Sünder’ zum Widerspruch
gegen die ‚herrschende Ordnung‘, gegen die Kaste, das
Privilegium etc. aufrief, war selbst in einem konkreten Sinne ein
politischer Verbrecher, ein Terrorist in den Augen der Römer,
die Jesus folgerichtig dann auch dem Tod am Kreuz übergaben.
Hier spricht eine radikalisierte Aufklärung, eine politische Aufklärung, wie sie bereits Jean-Jacques Rousseau als ‚Religion civile‘ erstmals 1758 in seinem Gesellschaftsvertrag formulierte25. Und diese Auffassung geht fundamental davon aus, dass es ein Fundament und ein integratives Element geben müsse, dass jeder Mensch sich als Mitglied einer sozialen und politischen Gemeinschaft erfahren kann. Und dieses Element ist die ‚religion civile‘, die Zivilreligion26.
Die Zivilreligion setzt die Trennung von Kirche und Staat voraus. Sie ist dann der religiöse Anteil einer politischen Kultur, der nach Robert N. Bellah notwendig ist, damit ein demokratisches Gemeinwesen funktioniert. So säkularisiert wirkt Religion und damit Gott inmitten der Polis als politisch kontrollierte Allmachtsphantasie. So können prinzipiell alle kulturell Identität stiftenden oder soziale Akzeptanz schaffenden Elemente für eine Gesellschaft die Funktion solcher religiöser Anteile übernehmen und zivilreligiös alle kulturellen Anteile genannt werden, die alleine durch politisches Handeln nicht verändert, abgeschafft oder eingeführt werden können.
Gewiss, es ist ein ‚Fortschritt‘ in diesem Sinne, dass die direkte Einwirkung der Religion in das Staatswesen unterbrochen wird durch die Trennung von Kirche und Staat. Aber wenn es richtig ist, dass die gesamte religiöse Mitgift nun in Form der Zivilreligion weiterbesteht, dann hat sich substanziell ja nichts geändert und so verwundert es wenig, wenn Macht- und Allmachtsphantasien in einer Art spukhafter Fernwirkung weiterhin das kulturelle wie politische Leben mitbestimmen, mindestens aber eine Vielzahl von Seelen beeinflussen.
Sicherlich hatte Nietzsche eine andere Vorstellung von einem „neuen“ Gott als durch politische Macht eingehegte Allmacht, wobei auch der Antichrist und Antinihilist eine Position einer aufgeklärten Religion vertraten, in der es keinen allmächtigen, allwissenden Gott geben sollte. Aber auch keinen Gott, der all‘ das verkörpert, woran es dem schwachen Menschen gebricht und ihm die Erlösung davon dereinst nach einem Leben in Alterität, in Selbstaufgabe bis hin zum Selbstopfer verspricht.
Der politisch radikale Aufklärer Nietzsche stand im 19. Jh. bereits an der Schwelle einer verhängnisvollen Bewegung, die nicht allein im Kampf gegen die Kirche und das jüdisch formierte Christentum ihren Ausgangspunkt nahm. Spiritismus und Atheismus blühten auf neben einer Vielzahl gewaltsamer und friedlicher, mehr oder weniger apokalyptischer und messianisch wie missionarischer Denkrichtungen, in die der Kommunismus und der Faschismus die politisch und ideologisch wirkungsmächtigsten Bewegungen in Europa und Teilen von Asien, später dann Lateinamerika und Afrika wurden.
Und allein die sprunghafte Verbreitung zivilreligiöser Denk- und Verhaltensweisen im Ausgang des 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh., die jene unsägliche Allianz von Verfassungs-Patriotismus und Nationalstolz in den USA und von Nationalstolz und Rassenideologie in Deutschland zu einer Einheit im Kampf der Kulturen und Rassen verband, die wiederum nicht zu Unrecht mit der „post-säkularen“ Idee von der „Rückkehr der Religionen“ in Verbindung gebracht wurden27, nahm etwas vorweg, was kurze Zeit später bittere politische Realität werden sollte.
Im Wissen um die verheerenden Auswirkungen und die über sechzig Millionen Toten gefriert einem heute noch das Blut in den Adern bei dieser Lektüre:
„Das größte
neuere Ereignis, dass Gott tot ist, beginnt bereits seine ersten
Schatten über Europa zu werfen. Wir Philosophen und ‚freien
Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte
Gott tot‘ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt,
unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen,
Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder
frei, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede
Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder
erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab
es niemals ein so ‚offenes Meer‘.“28
Anmerkungen:
1 Poetik, Kap. 6, 1449b26
2 persönliche, unbelegte Vermutung, d. Verf.
3 Matthäus 24,22; Markus 13,20,27; Römer 11,7; 1.Timotheus 5,21 Timotheus 2,10; Titus 1,1; 1.Petrus 1,1
4 Römer 8,29-30; Epheser 1,5 u.11
5 Römer 9,11; 11,28; 2.Petrus 1,10
6 ..."denn ich bin Gott, und keiner mehr, ein Gott, desgleichen nirgend ist, (Jesaja 44.6) 10 der ich verkündige zuvor, was hernach kommen soll, und vorlängst, ehe denn es geschieht, und sage: Mein Anschlag besteht, und ich tue alles, was mir gefällt. (Jesaja 42.9) 11 Ich rufe einen Adler vom Aufgang und einen Mann, der meinen Anschlag tue, aus fernem Lande. Was ich sage, das lasse ich kommen; was ich denke, das tue ich auch. (Jesaja 41.2)
7 Das Westminster Bekenntnis von 1647, Artikel 3
8 Johannes 1,11-13
9 4. Mose 23,19
10 Jakobus 1,13
11 1. Korinther 10,13
12 Maleachi 3,6
13 1. Samuel 15,29
14 Römer 11,29
15 Römer 6,23
16 Matthäus 26,39
17 Ernst Bloch: Werkausgabe: Band 5: Das Prinzip Hoffnung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-518-28154-2.
18 Das Zitat stammt aus der um die Jahreswende 1843/44 verfassten Einleitung zu seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Diese Einleitung hat er 1844 in der zusammen mit Arnold Ruge herausgegebenen Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher veröffentlicht.
19 NT, Lukas 17,12
20 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. 2 Bd.
21 Freidrich Nietzsche: Der Antichrist, 34. Text auf zenon.org, oder auf spiegel-online, projekt gutenberg
22 ebenda
23 Vgl. Freidrich Nietzsche: "Zur Genealogie der Moral". Text auf zenon.org
24 Die Nähe zwischen Nietzsche und dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard liegt in beider Schwierigkeit zu glauben und in der Überzeugung, dass der wahre, der neue Glaube sich auch nicht formuliert - "er lebt, er wehrt sich gegen Formeln." (Vgl. Nietzsche, der Antichrist)
25 Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou Principes du droit politique. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch/Deutsch. In: Reclams Universal-Bibliothek. Band 18682. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010, ISBN 978-3-15-018682-4.
26 Robert
N. Bellah: Civil Religion in America. In: Daedalus. Journal of the
American Academy of Arts and Sciences, 96 (1967), Boston,
Massachusetts, S. 1–21.
Deutsch: Robert N. Bellah:
Zivilreligion in Amerika. In: Heinz Kleger, Alois Müller
(Hrsg.): Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und
Europa (Religion – Wissen – Kultur, 3). München
1986, S. 19–41
27 Siehe aus religionssoziologischer Sicht: Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen: Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. C. H. Beck, 2000, vgl. etwa S. 48 ff.
28 Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft
zurück ...
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.